Bulimie: Erst erbrach sie nur die Sünden
Sünden, das waren für Jessica Pizza, Currywurst, Süßigkeiten. Dann wurde das Übergeben zur Sucht. Über eine unsichtbare Krankheit, die selbst Ärzte oft nicht ernst nehmen
Es gibt Pizza, als Jessica zum ersten Mal beschließt, zu erbrechen. Damals ist sie 22 Jahre alt und seit Langem unzufrieden: mit ihrer Figur, ihrem Liebesleben, ihrer Persönlichkeit. Sie hat schon viele Diäten ausprobiert, aber jede wieder abgebrochen. Sie ist frustriert, empfindet sich selber als schwach und inkonsequent. An diesem Abend sitzt sie mit ihren Freundinnen zusammen, die sie alle als schöner und besser wahrnimmt. Die Pizza liegt ihr schwer im Magen. Sie fühlt sich unerträglich fett, ekelt sich vor sich selbst. Also geht sie ins Bad, kniet sich vor die Toilette und steckt den Finger in den Hals. Sie muss einige Male würgen, bis es ihr schließlich gelingt, die Pizza wieder auszuspucken. Danach hat Jessica Schmerzen und ist erschöpft. Doch vor allem sie ist stolz.
"Endlich habe ich einen Weg gefunden, Essenssünden ungeschehen zu machen", denkt sie. In den darauffolgenden Tagen ist Jessica euphorisiert.
WENN JESSICA SICH SCHULDIG FÜHLT, FÜHLT SIE SICH FETT.
Das ist zehn Jahre her. So lange ist Jessica nun schon Bulimikerin. Seit zehn Jahren erbricht die heute 32-Jährige täglich. Oft hat sie Fressanfälle, verschlingt in kürzester Zeit Unmengen an Nahrungsmitteln und erbricht sie danach wieder. Sie hat schon lange aufgegeben, ihre Bulimie vor ihrem Partner zu verstecken. Sie weiß, dass er sich große Sorgen um sie macht. Sie weiß auch, dass er ihr helfen möchte, aber nicht weiß, wie. Sie spürt, dass er überfordert und frustriert ist – und fühlt sich schuldig deswegen. Wenn Jessica sich schuldig fühlt, fühlt sie sich fett.
Von außen betrachtet funktioniert Jessica: Sie arbeitet als Krankenschwester, hält den Kontakt zu ihren Freunden. Auch von ihnen wissen viele, dass Jessica eine Essstörung hat. Doch wie schlecht es ihr an manchen Tagen geht und wie gefährlich die Krankheit ist, können sie nicht einschätzen, glaubt Jessica. Immer wieder sagen sie zu ihr: "Lass das doch einfach sein." In solchen Momenten fühlt sie sich alleingelassen. Wenn Jessica sich alleine fühlt, fühlt sie sich fett. Wenn Jessica sich fett fühlt, möchte sie sich erbrechen.
Die unsichtbare Krankheit
Bulimie ist oft unsichtbar – und das macht die Krankheit so gefährlich. Denn wer äußerlich normal aussieht ist, bei dem denkt niemand an eine Essstörung. Essgestört, das sind in der öffentlichen Wahrnehmung stark untergewichtige junge Frauen, Magersüchtige. Dabei sind die Auswirkungen der Bulimie ebenfalls gravierend.
"Die Bulimia nervosa ist die jüngere Schwester der Anorexia nervosa, der Magersucht. Sie ist erst seit 1979 als offizielles Krankheitsbild klassifiziert", sagt Stephan Zipfel. Er ist Internist und Psychotherapeut und gehört zu den führenden deutschen Essstörungsforschern. Die Bulimie sei eine Krankheit, die besonders im Verborgenen und Heimlichen gelebt werde – was den Leidensdruck der Betroffenen zusätzlich steigere.
Während Magersüchtige meistens durch ein extremes und besorgniserregendes Untergewicht auffallen, sind Bulimikerinnen in der Regel normal- bis übergewichtig", sagt Elisabeth Rauh. Sie ist Ärztin und Vorsitzende des Bundesfachverbandes Essstörungen (BFE). Der Grund dafür sind die enormen Mengen an Kalorien, die die Betroffenen während der Fressattacken zu sich nehmen. Es ist nahezu unmöglich, diese wieder durch Erbrechen vollständig loszuwerden. Im Gegensatz zur Magersucht bleibt die Bulimie deshalb oft lange unbemerkt. Und dass die Betroffenen dringend Hilfe brauchen, ebenso.
Das erste Mal
Nach dem Abend, an dem sie die Pizza erbrach, beginnt Jessica, sich häufiger zu übergeben. Anfangs ausschließlich die Gerichte, die sie Sünden nennt: Currywurst, Pizza, Süßigkeiten. Mit vermeintlichem Erfolg: Die Zahl auf der Waage sinkt. Jessica ist glücklich. Sie fühlt sich stark und autonom. Doch dann stagniert das Gewicht. Jessicas Verzweiflung kommt zurück. Sie erbricht sich häufiger, bis sie schließlich fast nichts mehr bei sich behält.
An einem Tag ist sie nach dem Erbrechen derart unterzuckert, dass sie kaum noch laufen kann. Ein kleines Stück Schokolade soll helfen. "Das darf ich mir jetzt gönnen", sagt sie sich. Doch der Hunger ist zu groß: Sie isst das zweite Stück, das dritte, das vierte. "Jetzt ist eh alles egal", denkt Jessica und schlingt weiter. Nach der Tafel Schokolade plündert sie die Küche der WG, in der sie damals lebt, und stopft alles in sich hinein, was sie dort finden kann: Chips, Pfannkuchen, Nudeln vom Vortag, mehr Schokolade.
Wie Magersüchtige haben auch die meisten Bulimikerinnen und Bulimiker übermäßig große Angst davor, zu dick zu werden. Sie sehnen sich nach einem extrem niedrigen Gewicht und verknüpfen die Zahl auf der Waage mit persönlichem Erfolg oder Scheitern: je niedriger, desto besser. So geht es auch Jessica. "Ich hab mich richtig gut dabei gefühlt", sagt sie. "Ich hatte das Gefühl, ich bringe etwas zustande. Ich schaffe was, ich habe die Kontrolle über etwas." Gleichzeitig wird das Essen zum Suchtstoff: In regelmäßig auftretenden Fressattacken verschlingen die Betroffenen bis zu 10.000 Kilokalorien (kcal). Währenddessen fühlen sie sich, als hätten sie jegliche Kontrolle verloren und könnten mit dem zwanghaften Essen nicht mehr aufhören.
Die Routine
Nach nur wenigen Wochen löst fast jedes Lebensmittel bei Jessica einen Fressanfall und anschließendes Erbrechen aus. In Phasen, in denen es ihr besonders schlecht geht, hat sie bis zu zehn Attacken pro Tag. Das Haus kann sie an diesen Tagen nicht verlassen. Dann geht es nur ums Fressen und Brechen. Sie betäubt sich damit, baut Anspannung ab. "Die Fressanfälle und das Brechen sind wie ein Rausch", sagt Jessica, "und danach kann ich für kurze Zeit wieder durchatmen."
Das Erbrechen wird zur Routine. Nach nur wenigen Wochen sitzt jeder Schritt und jeder Handgriff: Während der Fressanfälle trinkt sie Milch oder isst zusätzlich Eis, damit das viele Essen im Magen weich genug wird, um es leichter wieder hochzuwürgen. Nach dem Heißhungeranfall raucht sie noch mal eine Zigarette. Denn nach dem Brechen wird ihr Hals dafür zu sehr schmerzen. Im Bad bindet sie ihre langen, blonden Haare zum Pferdeschwanz zusammen und nimmt eine bestimmte hockende Position vor der Toilette ein, die das Erbrechen erleichtert. Manchmal spuckt sie auch Blut, weil die Speiseröhre durch ihre Finger und die Magensäure verletzt wird. Doch das ist ihr in diesen Momenten egal. Hauptsache, es kommt so viel wieder heraus wie möglich. Wenn Jessica davon erzählt, wirkt sie sehr reflektiert: Sie weiß genau, dass sie eine schlimme Krankheit hat. Aber ein Leben ohne die Bulimie scheint für sie undenkbar.
"DIE 'BULIMIA NERVOSA' WIRD NACH WIE VOR NOCH ENORM UNTERSCHÄTZT."
Es gibt keinen Ort, an dem Jessica noch nicht erbrochen hat: bei Freunden und Familie, im Restaurant, auf der Arbeit. Vor drei Jahren fing sie zusätzlich an, übermäßig viel Alkohol zu trinken. Sie ist ständig benebelt und betäubt. An einem Abend ist sie schließlich so verzweifelt, dass sie sich betrunken in ihr Auto setzt und allein in die Psychiatrie fährt. Doch die Ärzte sehen nicht, dass sie Bulimikerin ist, sondern sehen ihre Alkoholabhängigkeit und überweisen sie in eine Suchtklinik, in der sie sechs Monate bleibt. Dort wird sie in erster Linie als Alkoholikerin behandelt.
Jessicas Fall ist keine Ausnahme: Die Behandlungsleitlinien – also die Vorgaben, wie Ärzte Bulimie-Patienten behandeln sollen – sind eigentlich eindeutig. "Trotzdem kommt es immer wieder zu einer Fehlversorgung", sagt Stephan Zipfel. Dies liege vor allem daran, dass eine Subgruppe der Bulimie-Patienten zusätzlich eine weitere Suchterkrankung oder etwa eine Persönlichkeitsstörung hat, die die Behandlung erschweren.
"Während Menschen mit Magersucht oft zwanghaft und kontrolliert sind, sind die meisten Bulimiker eher impulsiv und haben große Probleme, ihre Emotionen zu regulieren. Deshalb greifen sie oft zusätzlich zu weiteren drastischen Maßnahmen wie Medikamenten-, Drogen- oder Alkoholmissbrauch und Selbstverletzung", sagt auch Elisabeth Rauh. Durch diese Kombinationen sei die Krankheit besonders gefährlich. "Ihre extremen Gefühlsschwankungen machen es ihnen außerdem oft unmöglich, noch an einem sozialen Leben teilzunehmen. Viele sind suizidal." Ein Problem sei laut Rauh etwas, das sie "Klinik-Hopping" nennt: Mal seien Bulimikerinnen und Bulimiker aufgrund ihrer verschiedenen Symptome in einer Suchtklinik untergebracht, mal in einer Psychiatrie, mal in einer Einrichtung für Essstörungen. Das sei für den Therapieerfolg wenig förderlich, sagt sie.
Für eine bessere Versorgung für Menschen mit Bulimie müsse deshalb die Aufklärung über die Krankheit verbessert werden, sagt Rauh. "Die Bulimia nervosa wird nach wie vor noch enorm unterschätzt, sowohl in der breiten Gesellschaft als auch immer wieder von Medizinern." Rauh ist Chefärztin einer Klinik, in der Essstörungen in einer separaten Station behandelt werden. In ihrem Arbeitsalltag hört sie häufig diese Geschichte: Patienten werden von anderen Ärzten mit den Worten "Sie haben Normalgewicht, dann kann es ja nicht so schlimm sein" nach Hause geschickt.
Wenig ernst genommen zu werden, ist für viele Menschen mit Bulimie Alltag. Selbst essgestörte Patientinnen und Patienten degradieren die Bulimie zur unwichtigeren, kleinen Schwester der Anorexie. Elisabeth Rauh erklärt: "Viele Bulimiker eifern den Magersüchtigen nach und fragen sich, wie die es schaffen, so dünn zu sein. Sie schämen sich für ihre Form der Essstörungen und werfen sich vor, schlechter zu sein." Die Magersüchtigen hingegen würden ihre Krankheit eher als Triumph erleben und sich stärker als alle anderen fühlen, sagt die Ärztin.
Mit Magersucht verbindet sie Stärke
Auch Jessica fühlt sich als Versagerin – weil sie Bulimie hat und keine Magersucht. "Du immer mit deiner Völlerei, du bist schwach", denkt sie. Mit der Magersucht hingegen verbindet sie Stärke. "Die haben sich im Griff, sind straight und ehrgeizig."
Die Therapie, die sie in der Suchtklinik macht, hilft ihr, keinen Alkohol mehr zu trinken. Und während des Klinikaufenthaltes schafft sie es dank strikter Essenspläne und intensiver Betreuung, regelmäßig zu essen und sich anschließend nicht zu übergeben. Doch zurück im Alltag fällt es ihr schwer, das in der Klinik Erlernte umzusetzen. Es dauert nicht lange, bis sie wieder täglich erbricht.
Heute, nach zehn Jahren mit der Bulimie, ist Jessicas Körper von der Krankheit gezeichnet – auch wenn sie wegen ihres Normalgewichtes nicht wie eine vermeintlich typische essgestörte junge Frau aussieht. Ohne Wärmflasche geht sie nicht nach draußen, da sie immer friert. Sie ist ständig müde. An manchen Tagen kann sie kaum aufstehen. Oft hat sie mit Herpes und Aphthen, schmerzhaften Bläschen im Mundbereich, zu kämpfen. Ihre Zähne wirken durch den ständigen Kontakt mit Magensäure nahezu durchsichtig. Sie will die Krankheit unbedingt loswerden, versucht, jeden Tag aufs Neue zu kämpfen – für ihre Familie, ihre Freunde und ihren Partner. Doch es ist schwer, oft fühlt sie sich wie ausgeliefert. "Ich bin gefangen", sagt sie, "und ich kann nicht aufhören."