Künstliche Ernährung: Die Gefahr des Refeeding-Syndroms

Zu schwach zum Essen und ein lebensbedrohlich niedriges Gewicht:
 Für viele Menschen, die an Magersucht leiden, führt kein Weg an einer künstlichen Ernährung vorbei. Doch was passiert, wenn sich der Körper an die extrem geringe Nahrungszufuhr gewöhnt hat und es nicht mehr schafft, die Kalorien zu verarbeiten?

In diesem Fall spricht man von dem sogenannten Refeeding-Syndrom. Dieses Phänomen wurde erstmals bei der Befreiung japanischer Kriegsgefangener und nationalsozialistischer Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg beschrieben und meint das Auftreten lebensbedrohlicher Symptome, die durch zu schnelle Nahrungszufuhr nach einer langen Phase extremsten Hungerns und starken Untergewichts auftreten können.
Auch die medizinische Behandlung der Magersucht, der Anorexia nervosa, kann diesen Zustand unter Umständen hervorrufen – deshalb ist bei der künstlichen Ernährung magersüchtiger Patientinnen und Patienten Vorsicht geboten.

Künstliche Ernährung bei der Magersucht

Es gibt verschiedene Formen, um an Magersucht erkrankten Menschen zu helfen, wieder an Gewicht zuzunehmen: die orale Ernährung, die enterale oder die parenterale. Bei der oralen Ernährung lernen die Patienten im Rahmen einer Psychotherapie, sich wieder selber Nahrung zuzuführen. Wenn sie dazu nicht mehr in der Lage sind – weil sie sich verweigern, zu schwach sind oder ihr Gewicht lebensbedrohlich niedrig ist – gibt es die Möglichkeiten, sie entweder enteral mit einer Sonde über den Magen-Darm-Trakt zu versorgen oder parenteral. Die parenterale Ernährung umgeht den Darm und führt dem Körper die Nährstoffe intravenös zu, also über die Venen. Diese Form kommt jedoch ausschließlich bei lebensbedrohlichen Notfällen zum Einsatz – zum Beispiel bei Nierenversagen. Generell werden die Patienten meistens erst nach Ausschöpfung aller psychotherapeutischen Möglichkeiten und bei stetig zunehmender körperlicher Erschöpfung enteral oder parenteral ernährt.

Der Körper braucht Zeit

Die Annahme liegt nah, dass ein lebensbedrohlich dünner Menschen so schnell wie möglich wieder an Gewicht zunehmen muss. Doch genau das birgt Gefahren – denn der Körper hat sich an die Unterversorgung gewöhnt. Während des extremen Hungerns fährt er den Energieverbrauch maximal runter und arbeitet sozusagen auf Sparflamme. Werden diesem Körper, der über mehrere Monate fast gar keine Kalorien verarbeitet hat, zu schnell Nährstoffe zugeführt, besteht das Risiko, dass die Organe mit der Verarbeitung überfordert sind.
 Der Körper braucht Zeit. Zeit, um sich wieder an die „Anstrengungen“ der Nahrungsaufnahme und –verarbeitung zu gewöhnen.

Was passiert beim Refeeding-Syndrom

Schafft er es nicht, sich daran zu gewöhnen beziehungsweise ist er überfordert, spricht man von dem Refeeding-Syndrom. Dieses lebensbedrohliche Phänomen kann sowohl bei oraler Nahrungsaufnahme auftreten als auch bei der enteralen und der parenteralen Ernährung. Die Folge sind schwere Elektrolytstörungen sowie Vitaminmangelzustände mit anschließenden Organfunktionsstörungen. Während der Mangelversorgung durch das Hungern bezieht der Körper seinen Energiebedarf größtenteils durch die Fettverbrennung (Lipolyse). Dabei steigen die freien Fettsäuren im Blut an und die Glukose- und Insulinkonzentration sinkt. 

 

Wenn der Körper aber durch die künstliche Ernährung plötzlich wieder über genügend Glukose verfügt, stellt er die Lipolyse ein und reagiert außerdem mit einer erhöhten Insulinausschüttung, um die Glukose aus dem Blut in die Zellen zu transportieren. Außerdem steigt die Kalium, Magnesium- und Phosphatkonzentration in den Zellen an, während sie außerhalb der Zellen abfällt. Durch dieses Ungleichgewicht entsteht das Refeeding-Syndrom.

Wie äussert sich das Refeeding-Syndrom?

Zu den Symptomen des Refeeding-Syndroms gehören:

  • Akutes Herzversagen
  • Herzrhytmusstörungen
  • Akuter Vitamin-B-1-Mangel
  • Neurologische Ausfallerscheinungen
  • Wassereinlagerungen im Gewebe (Ödeme)
  • Krämpfe und Zittern
  • Störungen der Bewegungskoordination
  • Niedriger Blutdruck
  • Verstopfung
  • Zerfall von roten Blutkörperchen
  • Thrombozyten- und Leukozytenfunktionsstörungen (Blutplättchen und weiße Blutkörperchen)


Ein unbemerktes Refeeding-Syndrom ist in der Regel tödlich. Deswegen muss die künstliche Ernährung magersüchtiger Patientinnen und Patienten vorsichtig durchgeführt und aufmerksam beobachtet werden. Ärzte empfehlen anfänglich eine Ernährung mit gerade einmal 1000 Kalorien pro Tag. Diese Menge wird dann in den folgenden zehn Tagen schrittweise gesteigert. Generell sollen Patientinnen und Patienten nur so lange enteral oder parenteral ernährt werden, bis der lebensbedrohliche Zustand überschritten ist.
 
 Quelle:
 Zauner C, Kneidinger N, Lindner G. Schneeweiss B, Zauner A: „Das Refeeding-Syndrom“. In: Journal für Gastroenterologische und Hepatologische Erkrankungen. Fachzeitschrift für Erkrankungen des Verdauungstraktes. 2005; 3 (4), 7-11. http://www.kup.at/journals/gastroenterologie/index.html.