Magersucht und Wissenschaft: Das gestörte Bild

 

Keine Essstörung gibt Wissenschaftler*innen mehr Rätsel auf als die Magersucht: Wie können Menschen den Urtrieb Hunger derart ausblenden, warum nehmen sie ihren Körper so verzerrt wahr? Therapeuten und Hirnforscher suchen gemeinsam nach neuen Ansätzen im Kampf gegen die Anorexia nervosa. 

Magersüchtige haben eine besondere Kompetenz, die sie auszeichnet“, sagt Stephan Zipfel.
 
 Kom|pe|tenz, die: Sachverstand; Fähigkeiten; Zuständigkeit. Synonyme: Begabung; Können; Talent.
 
Kann man ein Talent für den eigenen Tod haben? Eine Begabung zur Selbstzerstörung? Ein Können, das stärker ist als eines der wichtigsten Grundbedürfnisse aller Lebewesen – Essen?
 
Zipfel ist davon überzeugt. „Dass es jemand überhaupt schafft, entgegen seinem Hungerantrieb nichts mehr zu essen, ist schon eine sehr, sehr, sehr spezifische Situation“, sagt der Internist und Psychotherapeut. Seit über 25 Jahren arbeitet er mit Essgestörten – und keine Krankheit gibt ihm so viele Rätsel auf wie die Anorexie.
Warum sind diese Menschen dazu fähig, sich selbst zu zerstören? Wie besiegen sie den Hunger? Haben sie überhaupt noch ein Hungergefühl?
 
„Die Magersucht ist ein Feld, in dem es mehr Fragen als Antworten gibt“, sagt Zipfel, der zu den führenden Köpfen in der Therapieforschung zählt. Seit die Anorexia nervosa 1869 zum ersten Mal in einer Fachzeitschrift beschrieben wurde, haben sich Forscher*innen und Therapeut*innen der verschiedensten Disziplinen daran abgearbeitet. Erkenntnisse aus der Psychotherapie stehen neben Daten aus Neurobiologie und Genetik, aber von einem schlüssigen Gesamtbild kann noch lange keine Rede sein.
 
Zipfel hat grundlegend neue Erkenntnisse für die Therapie geliefert, aber auch er versteht nicht den Antrieb der Magersüchtigen, sich selbst zu zerstören: „Daran werden wir noch einige Jahrzehnte forschen.“

Was für den Forscher Zipfel eine faszinierende wissenschaftliche Aufgabe ist, belastet den Arzt Zipfel. Gerade liegt auf seiner Station an der Tübinger Uniklinik eine junge Frau mit starkem Untergewicht und einer Lungenentzündung. Der Infekt gehört zu den zahlreichen Begleiterscheinungen einer schweren Anorexie – und er ist eine akute Lebensgefahr für den ausgemergelten Körper. „Ich kann nicht alle meine Patienten retten, das muss mir klar sein“, sagt der große, schlanke Mann, der Ruhe ausstrahlt in allem, was er tut: beim Small Talk mit den Stationsschwestern ebenso wie im Gespräch mit seinen Patientinnen.

Wer hat Schuld daran, wenn ein junger Mensch anorektisch wird? Die Gesellschaft, die Magermodels, die Eltern? „Für mich ist es besonders wichtig, diese Frage zu relativieren“, sagt Zipfel, „es kann nicht einfach immer die Mutter schuld an der Erkrankung ihrer Tochter sein – so wie es viele Jahre angenommen wurde.“ Weniger als die Frage nach Verantwortlichkeiten interessiert ihn, wie er ein Gegengewicht zum zerstörerischen Einfluss der Psyche auf den Körper finden kann.

Die Forschung an der Psychotherapie steht in Tübingen deshalb im Vordergrund. Stephan Zipfel und sein Team entwickeln und evaluieren neue Behandlungsmethoden. So galt die stationäre Psychotherapie im Krankenhaus lange als Mittel der Wahl. Bis Zipfel 2013 nachwies, dass auch die ambulante Therapie erfolgreich sein kann. „Sie funktioniert jedoch nur für Patientinnen, die zwar stark untergewichtig sind, deren Gewicht aber nicht im lebensbedrohlichen Bereich liegt“, sagt Zipfel. „Alle Teilnehmerinnen unserer Studie hatten einen Mindest-BMI von 15.“Körpergewicht geteilt durch Körpergröße zum Quadrat: So errechnet sich der Body-Mass-Index, kurz BMI. 

Was als Normalgewicht gilt, hängt vom Lebensalter ab: Bei 19- bis 24-Jährigen soll der BMI zwischen 19 und 24 liegen, bei über 64-Jährigen zwischen 24 und 29. Ab einem BMI von weniger als 17,5 sprechen die Mediziner von einem anorektischen Gewicht – ein Wert von 15 bedeutet also sehr starkes Untergewicht. Einige Patienten, die Stephan Zipfel stationär in Tübingen aufnimmt, haben einen lebensbedrohlichen BMI von elf oder zwölf. An diesem Punkt ist die Magersucht oft schon chronisch geworden. 

„Es macht einen sehr großen Unterschied, ob ein junges Mädchen vor mir sitzt, das eine anorektische Phase von ein paar Monaten oder einem Jahr hat, oder eine 30-, 40-jährige Frau, die seit 20 Jahren magersüchtig ist“, sagt Zipfel. „Dann geht es meist nicht mehr um Heilung, sondern darum, das nächste halbe Jahr zu überstehen. Das Leben mit der Magersucht so lebenswert wie möglich zu machen. So wie man es auch von anderen chronischen Erkrankungen kennt.“

Stephan Zipfel wirkt gefasst, beinahe abgeklärt, wenn er Sätze wie diese sagt. Er müsse die Distanz haben, sonst könne er seinen Job nicht machen. Empathie und Mitleid auf der einen, professioneller Abstand auf der anderen Seite.Dieser Abstand ist jedoch nicht immer gleich groß. Es gibt Menschen, deren Fälle ihm nähergehen als andere: Frauen, die er seit vielen Jahren begleitet, die immer wieder mit einem gefährlich niedrigen Gewicht in seine Klinik kommen. Frauen, die sich einfach nicht aus einem Umfeld lösen können, unter dem sie leiden – aus einer Familie voller Konflikte zum Beispiel: „Das sind Fälle, die ich als sehr schmerzhaft empfinde. Es tut schon weh zu sehen, wie meine Patienten dorthin zurückgehen, wo ein Leben ohne Krankheit einfach nicht funktionieren kann.“ Zipfels Stimme wird noch weicher und leiser, wenn er über diese Patienten spricht. „Oft sehe ich auch, wie knapp es tatsächlich wird, und gerate dadurch an meine persönliche Belastungsgrenze.“

"Ich kann nicht alle meine Patienten retten, das muss mir klar sein." (Stephan Zipfel)

Knapp – das heißt, es geht um das Überleben. Sieben bis zehn Prozent der Anorexiekranken sterben an den direkten Folgen der Magersucht, zum Beispiel an Organschäden. Mangel- und Fehlernährung, Erbrechen und andere radikale Methoden können zu Herzrhythmusstörungen führen und schließlich zum plötzlichen Herztod. „Und schließlich gibt es eine große Gruppe Magersüchtiger, die wegen der Krankheit und zum Beispiel einer zusätzlichen Depression Suizid begehen“, sagt Zipfel. Nach seinen Studien sterben bis zu 20 Prozent der Betroffenen an den Langzeitschäden: „Eine grobe Daumenrechnung ist: ein Prozent Sterblichkeitsrisiko pro Erkrankungsjahr. Das heißt, wenn jemand seit zehn Jahren magersüchtig ist, besteht ein Risiko von zehn Prozent, dass sie oder er daran stirbt.“ 
Die Schwere der Folgen ist abhängig vom Alter: Je jünger die Patient*innen sind und je schneller sie professionelle Hilfe bekommen, desto besser stehen die Chancen, dass sie sich von der Magersucht verabschieden können.

Warum ist ein Mensch anfällig für Anorexie, der andere nicht? Warum verläuft die Krankheit von Fall zu Fall unterschiedlich? Auch Boris Suchan sucht nach Antworten auf diese Fragen. Aufwühlende Kontakte zu Patient*innen hat er dabei so gut wie nie: Der Neurologe untersucht, ob die Gehirnstruktur bei Magersüchtigen verändert ist. Die Untersuchungen führen seine Studenten durch, Suchan entwickelt die Studien und wertet die Ergebnisse aus. 

Der 48-Jährige ist Hirnforscher durch und durch. Sein Büro an der Ruhr-Universität Bochum ist voller Gehirnmodelle. Auf dem Tisch, in den Regalen sammeln sich die Organplastiken, mit denen Suchan hantiert, wenn er mit leuchtenden Augen seine Forschung erklärt, die ihn spürbar begeistert. 

In einer viel beachteten Studie konnte Suchan 2010 gemeinsam mit dem Arzt Dietrich Grönemeyer von der Universität Witten/Herdecke und der Psychologin Silja Vocks von der Uni Osnabrück nachweisen, dass bei vielen Magersüchtigen bestimmte Hirnregionen weniger graue Zellen aufweisen – und zwar vor allem Regionen, die für die Körperwahrnehmung zuständig sind. 

Die meisten Anorektiker*innen haben große Schwierigkeiten, ihren Körper realistisch einzuschätzen – ihr eigenes Körperbild ist unvollständig. „Diese Veränderungen im Gehirn, also die reduzierte Dichte grauer Zellen, könnten die gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers erklären“, sagt Suchan. „Die Patienten nehmen sich selbst immer noch als dick wahr, obwohl sie medizinisch betrachtet viel zu dünn sind.“ Doch auch diese Ergebnisse dürften nicht verallgemeinert werden: Manche Patient*innen erkennen ihr Untergewicht sehr wohl und kommen trotzdem nicht los von ihrer Diätsucht.

Für eine Nachfolgestudie tat sich Suchan 2013 erneut mit Grönemeyer und Vocks zusammen. Sie untersuchten magersüchtige und gesunde Frauen im Kernspintomografen und stellten fest: Bei den magersüchtigen Frauen flossen sehr viel schwächere elektrische Signale zwischen zwei Teilen der Sehrinde, auch visueller Kortex genannt.


EBA (Extrastriate Body Area) und FBA (Fusiform Body Area) heißen die beiden Areale, die nach der ersten Aufnahme von visuellen Informationen durch den mittlen Okzipitallappen (mOC) für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Körperbildern wichtig sind. Die niedrige Verbindungsstärke zwischen den beiden Gehirnarealen scheint der Grund dafür zu sein, dass die Patienten ihren Körper nicht richtig einschätzen können.In der Studie bekamen 15 gesunde und zehn magersüchtige Frauen am Computer Bikinifotos unterschiedlich schlanker Körper zu sehen.

Anschließend sollten sie sich auf einer Skala zwischen „sehr dünn“ und „dick“ einstufen. Zehn Kontrollpersonen, die nicht an der Studie teilnahmen, bekamen Fotos der Probandinnen zu sehen und sollten sie ebenfalls einstufen. Das Ergebnis: Die gesunden Frauen schätzten sich selbst dünner ein als die Kontrollpersonen – die magersüchtigen Teilnehmerinnen hingegen nahmen sich selbst als dicker wahr. Danach zeichneten die Forscher*innen im Kernspintomografen die Hirnaktivität aller Teilnehmerinnen auf, während diese Fotos von Körpern betrachteten. Je schwächer die Verbindung zwischen EBA und FBA war, desto schlechter schätzten sich die Probandinnen selbst ein, desto fülliger waren sie in ihren Augen.

Die Ergebnisse der beiden Studien (von 2010 und 2013) waren eine Überraschung für Boris Suchan und seine Kooperationspartner*innen. Auffälligkeiten hatten sie in den Gehirnregionen erwartet, in denen Gefühle verarbeitet werden – das hätte die Vermutung bestätigt, dass emotionale Gründe hinter der Körperschemastörung stehen. Tatsächlich ist der visuelle Kortex betroffen – ein klares Zeichen für eine andere Art von Wahrnehmungsstörung. „Wir denken, dass die Körperfehleinschätzung bei der Magersucht in dieselbe Richtung wie die Gesichtsblindheit geht, bei der die Betroffenen nicht in der Lage sind, Gesichter zu unterscheiden“, sagt der Neurologe.

Sind diese Veränderungen im Gehirn der Grund für die Erkrankung? Oder sind sie eine Folge der Magersucht? „Das ist die Frage nach der Henne und dem Ei, und eine Antwort darauf zu finden ist aktuell beinahe unmöglich“, sagt Suchan. „Die Magersucht ist einfach zu selten. Wir müssten schließlich riesige Gruppen von Mädchen und Jungen bereits im Kindesalter untersuchen, um herauszufinden, ob Veränderungen im Gehirn auf eine mögliche spätere Anorexie hinweisen.“ 

Wichtiger und naheliegender sei es, neue Therapieformen abzuleiten. Und tatsächlich lassen sich die Veränderungen im Gehirn beeinflussen – zumindest in einem der betroffenen Areale, der EBA, wie Suchans Kooperationspartnerin Silja Vocks in einer Begleitforschung zur ersten Kernspinstudie nachweisen konnte. Die Psychologin entwickelt neue Methoden für die kognitive Verhaltenstherapie. Bei dieser Therapieform sollen Patienten negative Gedankenketten erkennen und benennen – und sie dann durch ein verändertes Verhalten beeinflussen. Dazu gehört bei der Behandlung der Magersucht auch die Körperbildtherapie, in der sich die Erkrankten mit ihrer eigenen Körperwahrnehmung auseinandersetzen. Ein Teil der Probandinnen bekam während der Studie von 2010 eine zehnwöchige Gruppentherapie zur Verbesserung ihres eigenen Körperbildes. Bei diesen Patientinnen zeigte der Kernspintomograf am Ende der Studie eine verstärkte Aktivität in der EBA – die Frauen konnten also ihr Körperbild besser verarbeiten.

Auch Stephan Zipfel nutzt Silja Vocks Erkenntnisse für die Therapie seiner Patient*innen In Tübingen hat er viele Elemente der Körperbildtherapie integriert. Bei allen geht es darum, die eigene Körperakzeptanz zu steigern – die Patient*innen sollen lernen, ihren Körper wieder neutraler einzuschätzen. Die Spiegelexposition zum Beispiel ist fester Bestandteil der Behandlung: Die Magersüchtigen werden hier mit ihrem eigenen Spiegelbild konfrontiert, manchmal mit dem gesamten Körper, oft nur mit einzelnen Teilen wie einem Arm oder einem Bein. In einer anderen Übung bilden sie auf dem Boden mit einem Seil ihre Silhouette nach und legen sich dann in die Kontur – und merken so, dass sie sich meistens deutlich breiter einschätzen, als sie in Wirklichkeit sind. 

Im vergangenen Jahr hat Boris Suchan seine Forschungsergebnisse in Tübingen vorgestellt. Das deutsche Anorexie-Forschungsfeld ist übersichtlich, man kennt und schätzt sich – und konkurriert. „Wir gehen jetzt noch einen Schritt weiter, als Herr Suchan es bislang gemacht hat, und zwar über das Dreidimensionale, über den Körper hinaus“, sagt Stephan Zipfel und kann sich dabei ein kleines, stolzes Grinsen nicht verkneifen. 

In einem neuen Forschungsprojekt will er die Bewegung als neue, vierte Dimension in die Therapie und Forschung einbringen. Dafür entwickelt eine internationale Arbeitsgruppe aus Neurowissenschaftler*innen, Universitätskliniker*innen und Informatiker*innen Avatare – Computerfiguren, die die Bewegungen der Patienten imitieren. So will Zipfel seine Patient*innen noch intensiver mit ihrem eigenen Körperausdruck konfrontieren: „Die Verbindung zwischen Körper und Psyche muss enggeführt werden, und das sollte auch der Fokus der zukünftigen Forschung sein.“ 


Auch Boris Suchan hofft auf eine engere Zusammenarbeit von Therapie und Neurologie: Lässt sich noch genauer herausfinden, was in den Gehirnen von Anorexiepatientinnen passiert? Und wie sich Verhaltenstherapie darauf auswirkt? 

Zipfel und Suchan sind sich einig: Die unterschiedlichen Forschungsstränge müssen enger verknüpft werden. Nur dann wird man vielleicht eines Tages wissen, wie die Patient*innen in diesen Teufelskreis der Diäten hineingeraten – und warum manche einen Weg aus der Krankheit finden, andere aber nicht. „Das“, sagt Zipfel, „ist die 100-Mio.-Euro-Frage, die ich noch nicht beantworten kann.“

Fotos: Boris Schmalenberger, Oliver Tjaden