Stationäre Therapie: Malinas Klinikalltag
Mit 16 Jahren war die heute 17-jährige Malina für 12 Wochen in einer Spezialklinik für Essstörungen. Ihre Tage dort waren von morgens bis abends durchgeplant. Das Ziel hinter der strengen Therapie: wieder essen und den eigenen Körper besser spüren. Sie berichtet über den strikten Zeitablauf.
06.00 : Wiegen
Malina wartet im Bademantel mit den anderen Patientinnen vor dem Schwesternzimmer. Drinnen steht die Waage, auf die sie sich gleich in Unterwäsche stellen wird. Dreimal in der Woche – Montags, Mittwochs und Freitags – werden die Mädchen gewogen. Erst wenn sie nicht mehr im starken Untergewicht sind, reduzieren die Therapeuten das Wiegen auf einen Termin in der Woche. Jeden Morgen sind die Patientinnen, die an Magersucht oder Bulimie leiden, nervös, die Ungewissheit und Anspannung ist deutlich zu spüren. 500-700 Gramm müssen sie pro Woche zunehmen. Oft kommen die Mädchen weinend aus dem Zimmer, entweder haben sie das Wochenziel nicht erreicht oder sie sind mit der Zunahme überfordert – schließlich haben sie lange Zeit um jedes Gramm weniger gekämpft.
07.00: Frühstück
Die Patientinnen (Jungs gibt es hier nur selten), sitzen jeweils mit ihrer festen Gruppe, mit der sie auch Therapien haben, an einem Tisch. Neben ihnen haben sich die sogenannte Diätassistenten der Klinik niedergelassen, die darauf achten, dass die Mädchen auch wirklich essen. Jede von ihnen bekommt einen Teller mit einer fertig portionierten Mahlzeit vorgesetzt, ein halbes Brötchen ist Pflicht. Ob sie die zweite Hälfte essen oder anstatt dessen lieber Müsli möchten, besprechen Malina und die anderen mit den Diätassistenten. Wichtig ist, dass sie ihre Rationen aufessen. Nach ein paar Wochen dürfen sie sich ihr Frühstück selber am Buffet auswählen und am Ende der Therapie essen sie sogar mit den anderen Patienten, die an keiner Essstörung leiden, gemeinsam im großen Speisesaal.
08.30: Psychotherapiegruppe
Rund zehn Patientinnen sitzen hier für knapp eine Stunde mit der Psychologin zusammen, die auch ihre Gruppenleiterin ist. Hier ist Platz für alle Themen, die ihnen auf dem Herzen liegen – und die nichts mit Essen oder Gewicht zu tun haben: Freunde, Familie oder schwierige Situationen aus ihrem Alltag. Eines der häufigsten Themen ist Einsamkeit, die selbstgewählte Abgrenzung der Mädchen von ihren Freunden.
10.00 : Zwischenmahlzeit
Zu Beginn des stationären Aufenthalts war die Wärmflasche Marinas ständiger Begleiter. Die plötzliche Menge an Essen überforderte ihren Körper, den sie viele Monate hungern ließ. Die Konsequenz waren starke Bauchschmerzen. Beim zweiten Frühstück können die Mädchen zwischen einem Joghurt, einem Schokoriegel oder einer Hand voll Kekse wählen. In den ersten Tagen der Therapie ist allerdings der Sahnejoghurt Pflicht. Auch die Zwischenmahlzeit wird wieder im betreuten Essensraum eingenommen, abseits vom großen Speisesaal.
10.30: Schule
Die Mädchen in Malinas Gruppe sind zwischen 14 und 17 Jahren alt. Aus diesem Grund haben sie jeden Vormittag 1,5 Stunden Unterricht mit Lehrern aus der Nachbarschule. Hier lösen sie Aufgaben, die sie von der Heimatschule zugeschickt bekommen.
12.00: Mittagessen
Malina sitzt wieder an ihrem Tisch, einen Teller mit warmen Essen vor sich. Das Mittagessen ist für die Patientinnen oft buchstäblich die schwerste Mahlzeit; Malina hat sich in den ersten Tagen vor allem mit den fettigen Speisen gequält: mit Käse überbackene Aufläufe oder Nudeln mit Sahnesauce. Es dauert oft lange, bis der Genuss die Angst vor Masse ablöst. Auch bei den Mahlzeiten kommt es immer mal wieder zu Tränen, doch die Diätassistenten sind zur Stelle, um über Probleme zu reden – und Lösungen zu finden. Manchmal gibt es Kompromisse: “Lass es jetzt liegen, dafür isst du dann später einen Schokoriegel”. Die Mädchen, die an Bulimie leiden, sitzen nach dem Essen für eine halbe Stunde im Zimmer der Krankenschwestern, damit sie die Nahrung nicht erbrechen.
13.00: Mittagsgruppe
In der Mittagsgruppe sprechen die Mädchen mit der Gruppenleiterin und mit den Diätassistenten ausschließlich über Gewicht: Wer hat zu- und wer abgenommen? Welche Essensrationen werden erhöht? Bei wem läuft es gut?
14.00 : Einzelgespräch
Für 50 Minuten spricht Malina einmal in der Woche allein mit einem Psychologen, bei Bedarf bekommt sie weitere Sitzungen. Hier arbeitet sie an ganz privaten Themen, die in der Gruppe keinen Platz haben.
15.00: Zwischenmahlzeit
Am Anfang der Therapie gibt es nachmittags für jedes Mädchen einen Schokoriegel oder einen Keks, 200 ml Milch und ein Stück Obst. Später, wenn sich das Gewicht stabilisiert hat, können sie sich die Mahlzeiten selber kaufen. Früher war es möglich, die Zwischenmahlzeit auch außerhalb des Speisesaals zu essen, doch viele Mädchen haben dies ausgenutzt: Als immer wieder weggeworfene Lebensmittel auf dem Klinikgelände gefunden wurden, schafften die Therapeuten die Alleingänge ab.
15.45: Bewegungstherapie
Die Körperwahrnehmung steht hier im Vordergrund, die Mädchen arbeiten mit ihren Sinnen und schulen außerdem ihr Vertrauen: Sie verbinden sich gegenseitig die Augen und führen sich durch den Raum. So lernen sie, die Kontrolle auch mal abzugeben. Manchmal tanzen sie oder massieren sich gegenseitig mit einem Igel-Ball. In den ersten Stunden tat Malina sich sehr schwer: Sie hatte Berührungsängste und wollte ihren Mitpatientinnen nicht so nah sein. Doch je besser sie einander kennenlernten, desto wohler fühlte sie sich damit.
17.30: Abendessen
Malina isst mit ihrer Gruppe Brot und Aufschnitt. Dazu bekommt sie ein Schälchen Salat und Dressing.
18.00: Abendprogramm
Die Patientinnen haben hier die Wahl zwischen einem Kreativ- oder Sportprogramm. Um an Angeboten wie Wassergymnastik oder Federball teilnehmen zu dürfen, muss ihr Gewicht jedoch stabil sein. Auch den Fitnessraum können sie in Absprache mit den Therapeuten und zu Beginn unter deren Aufsicht benutzen.
20.00: Spätmahlzeit
Die Spätmahlzeit ist freiwillig, Malina hat sich dagegen entschieden und dafür die Rationen bei den Hauptmahlzeiten erhöht. Sie sei noch nie ein Zwischendurch-Esser gewesen, sagt sie.
22.00: Nachtruhe
Die Mädchen ziehen sich auf ihre Zimmer zurück.