Germany's Next Topmodel: Heidi Klum ist nicht der Grund
Kaum eine andere psychische Erkrankung wird in unserer Gesellschaft so missverstanden wie die Magersucht. Glaubt man den Berichterstattungen der Boulevardmedien, haben Betroffene nur eines vor Augen: ein extrem dünnes Schönheitsideal. Doch das ist zu kurz gedacht. Menschen mit Anorexie besiegen eine biologische Funktion: den Hunger.
Fünf Jahre lang litt Helene* (30) an Magersucht. Eines hat sie in dieser Zeit immer begleitet: das Gefühl, sich rechtfertigen und erklären zu müssen. Selten nahmen andere ihre Essstörung als eine ernstzunehmende Krankheit wahr. “Immer wieder hörte ich: ‚Du siehst auch noch hübsch aus, wenn du mehr wiegst.’” Dabei ging es Helene niemals darum, hübsch zu sein – im Gegenteil: “Ich wollte mich gezielt hässlich machen.” In den extremsten Phasen vernachlässigte sie sich fast vollständig, aß, trank und wusch sich nicht mehr. Sie verletzte sich selbst, zerkratzte ihre Arme, ihre Beine und sogar ihr Gesicht.
“Und trotzdem dachten viele, ich wolle aussehen wie Kate Moss.”
Woher kommt dieses verzerrte Bild der Magersucht in unserer Gesellschaft? Eine Antwort darauf ist die zum Großteil eindimensionale Berichterstattung der Medien, insbesondere die der Boulevardmagazine: Germany’s Next Topmodel als Sündenbock, Size Zero als Ansporn zu hungern. Doch so einfach ist es nicht. Anorektikerinnen und Anorektiker schaffen es, dem Lebenstrieb Nahrungsaufnahme zu entsagen – der Grund für diese Kompetenz kann nicht Heidi Klum sein.
Verfallen wir alle dem Magerwahn?
Viele Menschen verstehen nur schwer oder gar nicht, wieso jemand selbstbestimmt (ver)hungert. Aus diesem Unverständnis heraus wird nach einem Grund gesucht. Irgendeinen muss es doch geben. Auch Helene erlebte immer wieder, wie ihre Mitmenschen händeringend nach einer Erklärung suchten. “Ständig sollte ich die Frage nach dem Warum beantworten. Aber ich hatte keine Antwort. Das hat viele verunsichert. Wahrscheinlich hätten sie gerne gehört, dass ich mich einfach zu fett fühle. Das wäre zumindest eine greifbare Begründung gewesen.”
Viele Medien liefern diese Erklärung bereitwillig. Beiträge mit reißerischen Titeln wie “Tödlicher Schlankheitswahn” oder “Falsche Schönheitsideale machen die Jugend krank” befeuern das einseitige Bild der Magersucht in der Öffentlichkeit. Auch Heidi Klum, die junge Mädchen angeblich massenweise in die Anorexie treibt, muss sich aktuell der Ferndiagnose eines Klatschmagazins stellen: Im Juni 2014 titelte die InTouch, Heidi Klum sei nun selber der Magersucht verfallen.
Der Schweizer Arzt und Psychiater Jürg Lichti erläutert in seinem Buch “Magersucht in Therapie”, dass sich das Gewichtsideal in den westlichen Industrienationen in den letzten 100 Jahren deutlich zu einem dünneren, schwerer zu erreichenden Ideal entwickelt hat. Das hat Konsequenzen: Eine Studie des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2006 ergab, dass in Deutschland rund 20 Prozent der Mädchen und Jungen bereits im Alter von elf Jahren eine auffällige Einstellung zum Essen haben. “Obwohl nur fünf bis zehn Prozent der Frauen über die konstitutionellen Voraussetzungen zur erklärten ‚Model-Idealfigur’ verfügen, stellt der dünngliedrige, fett- und faltenfreie Körper das Leitmotiv heutiger Mädchen und junger Frauen dar”, sagt Lichti. “Die Botschaft lautet: Bist du dünn, so bist du jemand!”
Menschen mit Magersucht umgehen evolutionäre Mechanismen
Dieses Leitmotiv aber ist nicht der alleinige Auslöser einer Magersucht, vielmehr erhöht es das Risiko für die Erkrankung. Dazu sei die Krankheit viel zu komplex, sagt Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Medizin am Universitätsklinikum Tübingen. Obwohl viele junge Frauen und Männer in unserer Gesellschaft ein besonders schlankes Schönheitsideal verfolgten, sei die Häufigkeit der Magersucht in ihrer engsten Form (siehe dazu: Merkmale der Anorexie nervosa nach ICD-10 Klassifizierung) in den letzten 20 Jahren nicht gestiegen – im Gegensatz zur Bulimie, die es heute häufiger gibt. Zudem sei Magersucht keinesfalls eine neue Erkrankung, sagt Zipfel. 1869 wurde sie bereits das erste Mal in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet beschrieben. Seitdem habe sich das Bild dieser Erkrankung nicht wesentlich geändert.
"Die Motive dahinter mögen sich gewandelt haben”, sagt Zipfel, “aber die Magersucht ist keine Modekrankheit, sondern schon lange bekannt.” Und obwohl Boulevardmedien das Thema Magersucht immer wieder im Programm haben: Die Anorexia nervosa ist eine seltene Krankheit. Nur schätzungsweise 0,3 bis 1 Prozent der jungen Frauen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren leiden tatsächlich daran. “Der Großteil der Menschen in den westlichen Industrienationen will abnehmen, dauerhaft schlank bleiben und kriegt es nicht hin”, sagt Zipfel. “Da stellt sich die große Frage: Warum ist das bei dieser ganz kleinen Gruppe anders? Sie geraten in einen Teufelskreis, in dem sie von Diäten nicht genug bekommen. Wie schaffen sie es, evolutionäre Mechanismen zu umgehen? An dieser Frage werden wir sicherlich noch einige Jahrzehnte forschen.”
Nach vier Klinikaufenthalten hält Helene seit drei Jahren ihr Normalgewicht. Wenn sie anderen von ihrer Vergangenheit erzählt, schlagen ihr immer noch oft Unverständnis und Vorurteile entgegen. Doch sie hat gelernt, nicht hinzuhören oder einfach wegzugehen, Boulevardmagazine meidet sie komplett. Ihren Körper mag sie immer noch nicht sonderlich gern und neigt dazu, seine Bedürfnisse zu ignorieren: Essen ist das Erste, das sie vergisst, wenn es ihr nicht gut geht. “Aber mittlerweile schrillen meine Alarmglocken, sobald ich mehr als eine Mahlzeit ausfallen lasse. Meistens schaffe ich es dann auch, doch zu essen, obwohl ich es eigentlich nicht will.” Die Fähigkeit zur extremen Disziplin, die viele Magersüchtige auszeichnet, ist also noch da. Doch Helene hat es geschafft, sie umzuleiten – auf den Kampf gegen die Anorexie.
* Name von der Redaktion geändert