Lieber verschwinde ich – Magersucht in der Kindheit

Dass schon Kinder an Magersucht erkranken, ist selten – doch es kommt vor. Auch die heute 30-jährige Anna* litt bereits mit 10 Jahren an der Anorexia nervosa. Trotz ihres jungen Alters schaffte sie es, die Krankheit zu besiegen. Ein Gesprächsprotokoll.

Als ich das erste Mal merkte, dass ich nicht mehr essen kann, war ich zehn Jahre alt. Es war nicht das Gefühl, zu dick zu sein, das interessierte mich damals gar nicht. Es war purer Ekel. Ekel vor dem Essen. Die Aufnahme von Nahrung war mir plötzlich zuwider geworden.
 
Damals war ich mit meinem Vater und seiner damaligen Freundin im Urlaub. Eigentlich wollte ich gar nicht mitfahren. Viel lieber wäre ich bei meiner Mutter geblieben, denn zu meinem Vater hatte ich keinen guten Draht. Doch niemals hätte ich offen ausgesprochen, dass ich mich nicht wohl bei meinem Vater fühlte. Genauso wenig hätte ich über meine Hilflosigkeit gesprochen, die sich in diesem Sommer in mir ausbreitete: Die Grundschule war zu Ende gegangen – eine Veränderung, die ein großer Schock für mich war.
 
Nach einem halben Jahr auf dem Gymnasium verreiste ich wieder mit meinem Vater. Der Skiurlaub stand an. Wieder musste ich meine sicheren vier Wände und meine Mutter verlassen. Wieder fühlte ich mich verloren. Wieder kam die Schockstarre. Schon während der vergangenen sechs Monate hatte ich stark abgenommen und war sehr schlapp. Zum Skifahren war ich körperlich nicht in der Lage und verbrachte deshalb die Tage alleine im Hotel, während sich mein Vater auf der Piste vergnügte – mit seiner neuen Freundin.


War sie dabei, behandelte mich mein Vater lieb und herzlich. Waren wir alleine, ignorierte er mich, oder ich bekam Ärger. Ich fühlte mich benutzt. Von dem Moment an kam die Angst hinzu: Paralysiert wartete ich auf das, was kommen würde, und dachte: „Ich lege mich in einen Sarg und warte ab. Luft anhalten.“
 
Heute glaube ich, das Nicht-Essen war meine Art der Konfliktvermeidung: Hätte ich laut ausgesprochen, dass ich so nicht behandelt werden möchte, hätte ich womöglich jemanden vor den Kopf gestoßen. Stattdessen aß ich lieber kaum etwas. Als ich vom Skiurlaub nach Hause kam, sah mich meine Mutter an und weinte. Die Magersucht hatte Besitz von mir ergriffen.
 
Eigentlich fand ich Essen immer toll. Doch jetzt konnte ich nur noch etwas zu mir nehmen, wenn ich es wollte – und nicht, weil es jemand von mir erwartete. Ich wollte keine Marionette mehr sein. Also aß ich nur, wenn niemand darauf achtete, was natürlich nicht lange funktionierte. Schließlich kamen jene Momente, die ich so sehr hasste: Kaum biss ich in einen Apfel oder gönnte mir eine Scheibe Brot, freute sich meine Familie. Dabei wollte ich doch nie wieder etwas tun, um jemandem zu gefallen. In dieser Zeit brach ich auch den Kontakt zu meinem Vater ab.


Meine Mutter war mein einziger Halt. Sie ahnte, dass eine Diagnose wohl Magersucht lauten würde. Trotzdem zwang sie mich zunächst zu nichts, auch nicht zu essen. Sie wusste: Selbstbestimmtheit ist das Allerwichtigste für mich. Und so ließ sie mich los – und nahm das Risiko in Kauf, dass ich sterben könnte. „Mein Ego hat damit nichts zu tun“, sagte sie sich. „Es ist ihr Leben. Ich habe es ihr zwar geschenkt, aber sie darf damit machen, was sie will.“
 
Im Gegensatz zu meiner Mutter, dachte ich damals noch nicht an Magersucht. Mein Hauptproblem war die Angst: Ich fand keine Ruhe mehr, mein Körper war unter Daueranspannung. Oft konnte ich nur im Arm meiner Mutter schlafen. Eine paradoxe Situation, schließlich wollte ich doch auch mit meinen 10 Jahren schon autonom sein. Das Hungern aber verstärkte meine Angst.
 
Das Hungern brachte mir auch anderes Leid: Ich wollte eigentlich viel lieber aussehen wie die Mädchen in meiner Klasse, die schon einen Busen hatten. Aber dafür war ich einfach zu dünn. Das wusste ich. Doch obwohl ich nicht mehr wie ein Kind aussehen wollte, hungerte ich weiter.
 
Anfangs wusste ich nicht, was dick macht. Kalorien interessierten mich genauso wenig wie mein Gewicht. Bei mir drehte sich alles nur um Fülle. In meinem Schrank hing diese eine sehr schmale Jeans. Was für andere die Anzeige auf der Waage war, war für mich die Hose. Ich wusste: „Solange ich noch in diese Jeans passe, ist alles okay.“


Die Pubertät kam, und so sehr ich nicht mehr wie ein Kind aussehen wollte, so sehr hatte ich auch Angst davor, eine Frau zu werden: Ich war meiner Mutter schon immer sehr ähnlich und glaube, dass mein Vater sie in mir sah. Genau davor fürchtete ich mich – eines Tages das komplette Abbild meiner Mutter zu sein. Ständig hatte mein Vater schon mit mir als Kind angegeben: „Das ist meine schöne Tochter.“ Nie konnte ich mich darüber freuen. Ich wollte nicht – und will auch heute nicht –, dass sich jemand mit mir schmückt. Werde ich zur Frau, so dachte ich, steigt die Gefahr, wegen des Äußeren benutzt zu werden. Ich bin aber kein Objekt, das man auf Schönheit reduzieren kann. Lieber verschwinde ich und werde gar nicht gesehen.

Und so war meine Methode, nein zu sagen, das Essen zu verweigern. In den schlimmsten Zeiten konnte ich noch nicht mal Wasser trinken. Schließlich war ich lebensgefährlich dünn, und meine Mutter brachte mich in ein Krankenhaus. Erst jetzt weiß ich, wie gefährlich mein Zustand wirklich war: Ich hatte einen BMI von 10. Ab diesem Punkt wird anorektischen Patienten Kalium zugeführt, damit das Herz nicht stehen bleibt.

Die Ärzte nahmen mich in der Kinderstation auf, und als meine Mutter ging, brach ich zusammen. Ich fühlte mich wie unter Feinden, die alle nur wollten, dass ich zunehme – und mehr nicht. Doch den Therapeuten gelang es, mir die Angst vor dem Essen zu nehmen. Sie erklärten mir genau die nächsten Schritte, welche Nahrung wie viele Kalorien hat, und wie ich wieder an Gewicht zunehmen würde. So konnte ich das Hungern endlich abgeben. Die Ernährungsberaterinnen erstellten gemeinsam mit mir einen Essensplan und vereinbarten, dass ich pro Woche ein Kilo zunehme. Es war okay, und ich fühlte mich beschützt. Jemand anderes hatte nun die Kontrolle übernommen und ich musste mich um nichts mehr kümmern, das war eine große Erleichterung. Außerdem hatte ich zweimal in der Woche Psychotherapie-Sitzungen, die mir geholfen haben, mich neu kennenzulernen.


Während der Zeit in der Klinik war ich von der Außenwelt abgeschottet: Ich wollte weder Radio hören noch fernsehen. Die Welt machte mir Angst. „Wenn irgend etwas von außen kommt“, dachte ich, „bin ich verseucht.“ Stattdessen schrieb unzählige Seiten Tagebuch über das Leben – und den Tod.
 
In dieser Zeit änderte ich meinen Namen. Der alte war für mich ein Teil meiner ersten zehn Lebensjahre und fest an ein Gefühl gekoppelt: das sich Verstellen. Bis dahin ging es für mich immer nur darum, anderen Menschen zu gefallen. Der neue Name sollte mich davon befreien. Er war ein Symbol für einen Neubeginn.
 
Neun Monate später, entließen mich die Ärzte aus der Klinik und ich ging wieder in die Schule. Noch immer war ich sehr schmal und vor allem sehr klein. Weil ich die Magersucht vor der Pubertät entwickelt hatte, war meine Hypophyse, jene Drüse im Gehirn die wichtige Wachstumshormone produziert, eingeschlafen. Drei Jahre lang musste ich deshalb Hormone spritzen. Heute bin ich 1,66 Meter groß.
 
Zu Hause verfolgte ich einen strikten Ernährungsplan, jede Mahlzeit wog ich akkurat ab. Ich konnte alles berechnen, das gab mir Halt. Die neue Form der Kontrolle war für mich nicht mehr das Hungern, sondern das Gewichthalten. Meinen BMI von 18,5 wollte ich auf keinen Fall unterschreiten. Das Prinzip der Sucht hatte ich verstanden und ich wusste: „Wenn ich jetzt zurückfalle und wieder anfange zu hungern, greift die Sucht wieder zu.“ Ich hatte noch ein halbes Jahr lang weiterhin ambulante Psychotherapie.
 
Mittlerweile bin ich stabil und habe Normalgewicht. Meine Nahrung muss ich inzwischen nicht mehr wiegen. Zwar ist die Sehnsucht nach Kontrolle noch da, aber sie ist schwächer geworden. Das Dünnsein war das Schlimmste, was ich jemals empfunden habe. Als ich mit 18 endlich meine Regel bekam, war ich so glücklich. Endlich war ich eine Frau.
 Auch das Verhältnis zu meinem Vater ist wieder in Ordnung. Zwanzig Jahre später nach meiner Entlassung aus der Klinik sah ich ihn zum ersten mal wieder. Seither treffen wir uns immer wieder mal für ein paar Stunden. Mein Vater ist jetzt für mich ein alter Mann, der mich nicht mehr verletzen kann. Es ist jetzt so, wie ich es mir damals gewünscht hätte, als ich zehn war: ich bin in seiner Gegenwart selbständig.


Ich glaube, die Gründe für eine Magersucht können sehr individuell sein, sei es Selbstzerstörung oder Schönheitswahn. Die Summe ist die Krankheit. Ab einem gewissen Punkt spielen diese Gründe oder gar die Gesellschaft keine Rolle mehr. Dann steht die Sucht im Vordergrund, das Glücksgefühl des Hungerns, der Entzug und die Angst – nicht mehr das Dünnsein. Ein Schönheitsideal wird meiner Meinung nach an diesem Punkt völlig unwichtig, auch wenn es vielleicht bei vielen einer der Auslöser sein mag. Ich denke, dass die Autonomie jedoch bei den meisten, wie auch bei mir, ein großes Thema ist. Letztlich dreht sich alles um diese eine Frage: „Darf ich ich selbst sein?“