"Viele Eltern fühlen sich alleingelassen"

In der Therapie von essgestörten Jugendlichen sollte es nie um die Schuldfrage gehen, betont Psychotherapeut Andreas Schnebel  und spricht im Interview über die massiven Schwierigkeiten für die Angehörigen. 

Für die meisten Patienten, die an einer Essstörung leiden, ist ein stationärer Aufenthalt in einer Fachklinik Teil der Therapie. Doch oftmals fällt es den Betroffenen schwer, das dort Erlernte auch zu Hause umzusetzen. Woran liegt das? 


Bei der Rückkehr aus der Klinik ins normale Leben entsteht ein sehr großer Bruch. In einer Fachklinik kommen die Patienten meist gut zurecht, weil dort die Therapie intensiv und die Gruppendynamik hilfreich ist. Ihr Zuhause ist hingegen oft mit schlechten Erinnerungen an die Krankheit verbunden. Da ist zum Beispiel der volle Kühlschrank, aus dem die Patienten nichts genommen haben. Da ist die Waage oder da ist die Toilette, in die erbrochen wurde. 

Einige Jugendliche fallen zu Hause wieder in frühere Verhaltensmuster zurück. 

Wie gehen Eltern damit um? 

Viele Eltern fühlen sich alleingelassen. Ich habe in den letzten Jahren viele Eltern erlebt, die furchtbar verzweifelt waren. Manchmal werden ihnen auch von Ärzten oder Therapeuten Vorwürfe gemacht. Wer ein magersüchtiges Kind hat, kämpft nicht nur mit der schwerwiegenden Krankheit und mit der Angst um seine Tochter oder seinen Sohn, sondern auch mit einer Menge Schuldgefühlen. 

Die Annahme, dass an einer Essstörung immer eine konflikthafte Mutter-Tochter-Beziehung Schuld ist, hält sich hartnäckig. 

Als wir vor 30 Jahren ANAD (eine gemeinnützige Beratungsstelle, die sich auf Essstörungen spezialisiert hat, Anm.) gegründet haben, war diese Annahme noch viel weiter verbreitet als heute. Es gibt aber diesbezüglich durchaus Fortschritte, da das Wissen über die komplexe Krankheit tiefer geworden ist. Die Gründe für Magersucht, Bulimie oder andere Essstörungen sind vielschichtig, es gibt nie nur einen Grund. Eine Essstörung muss immer als System betrachtet werden.

Welche Rolle spielen die Eltern oder andere Angehörige?

Wenn es den Eltern oder anderen Angehörigen nicht gut geht, übernimmt häufig das Kind durch seine Krankheit eine Aufgabe und wird somit zum Symptomträger für ein System, das nicht oder nicht mehr richtig funktioniert. Anschuldigungen wie "Die Mutter ist immer Schuld" sind zu kurz gedacht. Mütter neigen sowieso schon dazu, die Schuld sofort bei sich selbst zu suchen. Väter schieben hingegen eher die Verantwortung von sich weg. 

Wie gehen Sie als Psychotherapeut damit um, dass Mütter häufig die Schuld bei sich suchen? 

Ich betone in Gesprächen immer: "Es geht niemals um Schuld." Die sehr belastende Schuldfrage ist in einer Therapie wenig zielführend und hält oft nur auf. Fast alle Eltern wollen schließlich alles richtig machen und handeln in bester Absicht. 

Viele essgestörte Jugendliche streben nach Autonomie und leben diesen Drang nach Selbstständigkeit durch das Nichtessen aus. 

Welche Strategien sind hier für Eltern hilfreich? 

Das Ziel sollte immer sein, den Kontakt nie komplett abreißen zu lassen, selbst wenn dies sehr schwierig wird. Natürlich gibt es auch extreme, seltene Fälle, in denen es zu Gewalt oder Missbrauch durch Eltern kam. In einem solchen Fall ist klar, dass man das Kind nicht mehr mit seinen Eltern zusammenbringen sollte. Doch beim größeren Teil bleiben die Kinder in ihren Familien. Hier ist es dann wichtig, dass in Familientherapien allen Beteiligten geholfen wird. 

Wie wichtig ist es, dass sich Eltern auch stückweise von der Krankheit ihres Kindes lösen? 

Das ist sehr wichtig. Wenn ein Kind schwer krank ist, opfern sich die meisten Eltern extrem auf, was wiederum dem Kind nicht gut tut. Oft ist, symbolisch gesprochen, eine gesamte Familie magersüchtig. Man spricht dann von einer Co-Abhängigkeit. In Familientherapien oder bei unseren Elterncoachings geht es dann auch darum, zu schauen: Was können die Eltern für sich selbst und für sich als Paar tun, damit ihre eigenen Bedürfnisse nicht komplett verlorengehen? -