Magersüchtig auf einer Palliativstation

Eine junge Frau hat ein lebensbedrohlich niedriges Gewicht und sucht Hilfe – doch Spezialkliniken lehnen sie ab. Ärzte überlegen sogar, sie auf die Palliativstation zu verlegen. Der Fall zeigt eine dramatische Versorgungslücke.

Esra* kann nicht essen. Seit Jahren verliert die junge Frau an Gewicht, war zeitweise lebensbedrohlich mager. Immer wieder wurde sie in einem Krankenhaus in Unna, einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt, medizinisch versorgt. Doch ihr Zustand verschlechterte sich weiter und schien immer gefährlicher zu werden. Sozialarbeiter und Mediziner wussten nicht mehr weiter. Sie überlegten, ob die Palliativstation der richtige Ort für die Patientin sei. Doch die 28-Jährige leidet nicht an unheilbarem Krebs. Esra ist magersüchtig.
 
Psychologin Jessica Leiwen, die im Krankenhaus Unna vorwiegend mit Krebskranken arbeitet, war betroffen, als sie von dem geplanten Behandlungsschritt erfuhr. “Für mich war aufgrund der diagnostischen Kriterien klar, dass diese Patientin nicht auf eine Palliativstation gehört “, sagt sie. Doch die Begründung der Kollegen sei gewesen: Da die junge Frau willentlich nicht isst, hat sie scheinbar mit dem Leben abgeschlossen. “Sie hatten das Beste für Esra im Sinn, konnten aber vor Ort keinen anderen Weg gehen”, erklärt Leiwen.
 
Esra wusste nicht genau, was Palliativmedizin bedeutet – nämlich die Begleitung und Versorgung schwerkranker Menschen, deren Tod unausweichlich bevorsteht. “Als ich ihr das erklärte, was palliativ heißt, konnte ich die Angst in ihren Augen sehen”, so Leiwen. “Sie war völlig aufgelöst, verzweifelt, denn sie will ja leben, kommt aber aus ihrer psychischen Erkrankung nicht heraus.” Dies sei zu vergleichen mit schwer depressiven Patienten in einer suizidalen Krise, die nach Überwindung der Krankheit oft nicht mehr nachvollziehen können, warum sie ihr Leben beenden wollten, so die Psychologin.
 
Die Aufklärung der Patienten ist eines der wichtigsten Kriterien in der Palliativmedizin. “Alle Optionen der Behandlung werden mit dem Patienten besprochen und alle Entscheidungen gemeinsam mit ihm erarbeitet. Und wofür auch immer er sich entscheidet, wir begleiten ihn dabei”, erklärt Boris Hait, Leitender Oberarzt des Palliativzentrums Unna. “Wir verstehen uns als Anwälte der Patienten.”
 
Auch ihn hatte die Überlegung verwundert, Esra auf seine Station zu verlegen. “Die Kollegen standen mit dem Rücken zur Wand und sahen uns als letzte Instanz.” Doch er war sich sicher, dass Esra trotz ihres sehr schlechten Zustandes und extrem niedrigen Körpergewichtes nach wie vor Chancen auf eine Verbesserung hatte – und aufs Überleben. “Da war im Gesamtspektrum der Therapiemöglichkeiten noch nicht alles ausprobiert worden”, sagt Hait. Schließlich sei das Krankenhaus keine Fachklinik für Magersucht.

Mindest-BMI für die Therapie

In Boris Haits Augen war die Palliativbehandlung nicht angemessen – und gleichzeitig reichte die Versorgung auf der regulären Station nicht aus.
 “Sie brauchte eine Behandlung, die Intensivmedizin und eine auf Essstörungen spezialisierte Psychotherapie vereint”, sagt Jessica Leiwen. Diese Kliniken gebe es in Deutschland zwar, doch sie seien selten. Und rein psychosomatische Häuser würden Magersüchtige mit einem extrem niedrigen Gewicht nicht aufnehmen, da sie ohne Intensivstation keine ausreichende medizinische Versorgung garantieren können.


Esra hatte mit einem BMI von 12 sehr starkes Untergewicht und wurde deswegen von vielen Fachkliniken abgelehnt. “Das war zutiefst frustrierend, und die Not wurde immer drängender”, sagt die Psychologin. Denn der Frust verstärkte Esras Depression.

“Sie hatte das Gefühl, nirgendwo ankommen zu dürfen und nicht nur schwer krank, sondern darüber hinaus als Mensch nicht okay zu sein.”

Esras Fall offenbart, dass es eine Lücke bei der therapeutischen Versorgung von Magersüchtigen in Deutschland gibt. Zu wenige Kliniken bieten Behandlungen für Betroffene mit einem lebensbedrohlich niedrigen Gewicht an. In den meisten Fällen betreuen auch ambulante Psychotherapeuten an einer Essstörung erkrankte Menschen erst ab einem BMI von 15, da auch sie das Risiko eines derart niedrigen Gewichts nicht tragen können.
 
 essica Leiwen ist außerdem sicher: “Dass in einem Krankenhaus der Grundversorgung spezialisiertes Fachpersonal anwesend ist, das über ein hochkomplexes Krankheitsbild wie das der Anorexie umfassend Bescheid weiß, kann nicht erwartet werden.”

Die Situation wiederholt sich

Esra hat nach etlichen Wochen endlich einen stationären Therapieplatz gefunden, verbrachte dort mehrere Wochen und konnte ihr Gewicht auf einen BMI von 15 steigern. Diesen gilt es nun mindestens zu halten, denn jetzt, wieder zu Hause, braucht sie dringend eine ambulante Behandlung, die so endlich möglich ist
 
Palliativmediziner Boris Hait steckt aktuell zum zweiten Mal in der schwierigen Situation: Wieder kam die Anfrage, eine schwer kranke, magersüchtige junge Frau bei ihm aufzunehmen, und wieder hat sich das Team der Station nach gründlicher Analyse der Situation und ebenso intensiven Gesprächen mit der Patientin und ihrer Familie dagegen entschieden.
Dass auch diese Patientin dringend Hilfe braucht, steht außer Frage. Doch diese Hilfe kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht von einem Palliativteam kommen, sondern muss von Fachärzten für Magersucht geleistet werden.
 
 Bislang konnte die junge Frau keinen passenden Therapieplatz finden.

* Name von der Redaktion geändert