Bulimie: "Über allem schwebt die Selbstanklage"

Heftige Gefühle, Fressanfälle, Erbrechen, Scham - das ist der Teufelskreis, in dem sich Bulimikerinnen befinden. Die Ärztin Elisabeth Rauh erklärt, was daran so gefährlich ist und warum der Wille keine Rolle spielt.

Dr. med. Elisabeth Rauh ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie und leitet das Zentrum für verhaltenstherapeutische Medizin der Schön Klinik Bad Staffelstein/Bamberg mit einem Spezialzentrum für Essstörungen.

Frau Rauh, viele von uns haben sich schon mal "überfressen", mancher hat sich danach vielleicht sogar übergeben. Wo liegt die Grenze zur Krankheit?

Das Wörtchen "mal" macht den Unterschied. Wer wiederholt und regelmäßig Fressanfälle hat und dabei einen absoluten Kontrollverlust verspürt, leidet dauerhaft. Im Anschluss an die Fressattacken folgt bei Bulimiekranken das Gegensteuern mit Erbrechen, sie schlucken Abführ- und Entwässerungsmittel oder treiben Sport bis an die Schmerzgrenze. Danach machen sich Ekel, Scham und Selbsthass breit - aber auch Erleichterung, weil sie hoffen, durch das Erbrechen eine Gewichtszunahme verhindert zu haben.

Wie gelingt es den Betroffenen, ihre Krankheit zu verstecken?

Bulimie ist nicht sofort sichtbar, denn viele sind normal-, mitunter auch leicht übergewichtig. Es gibt zwar Magersüchtige des sogenannten Purging Typs, die stark hungern und die minimalen Mengen, die sie essen, zusätzlich erbrechen. Menschen mit dieser bulimischen Magersucht drohen, in ein extremes Untergewicht zu kommen. Wer aber normal oder gar massive Mengen isst und anschließend erbricht, bleibt mit seinem Gewicht meist im Normalbereich.

Nicht immer lassen sich die Betroffenen klar der Kategorie Magersucht oder Bulimie zuordnen. Was haben die verschiedenen Essstörungen gemeinsam?

Generell können sich alle Essstörungen abwechseln und ineinander übergehen, es gibt zahlreiche Zwischen- und Mischformen. Verallgemeinert haben alle Essstörungen gemeinsam, dass die Kontrollprozesse nicht richtig funktionieren: Entweder sind diese überkontrolliert oder enthemmt. Außerdem können Menschen mit Essstörungen nur schwer mit ihren Gefühlen umgehen. Sie empfinden ihre Emotionen als zu intensiv, zu schnell wechselnd, als dauerhaft unangenehm. Oder sie leiden unter dem Fehlen von Gefühlen.
 

Und was unterscheidet Bulimiekranke von Magersüchtigen? 

Anorektische Patienten handeln oft in Ritualen, viele sind sehr perfektionistisch. Bulimiker hingegen erleben sich meistens als unkontrolliert und impulsiv. Während die Magersucht oft von Zwängen begleitet wird, treten bei Menschen mit Bulimie häufiger bipolare Störungen und Selbstverletzungen auf, viele leiden unter Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch. Magersüchtige wollen außerdem in dem Zustand bleiben, in dem sie sind und verteidigen ihn. Die bulimischen Patienten hingegen befinden sich in einem Sehnsuchtszustand. 

Was kann Essen an dieser Sehnsucht ändern? 

Dauerhaft gar nichts, im Gegenteil. Aber für den Moment erfahren die Bulimiekranken Erleichterung: Sie empfinden ihre Gefühle oft als extrem und wissen nicht, wie sie diese aushalten oder beruhigen sollen. Deshalb greifen sie zu drastischen Maßnahmen wie Fressen und Erbrechen. Während der Essanfälle sind sie in einer Art Rausch, in einem dissoziativen Zustand: Sie wissen, dass sie danach leiden werden, können aber nicht aufhören. 

Und nach dem Rausch kommt das schlechte Gewissen. 

Richtig. Schuld und Scham sind wiederum intensive Gefühle, die die Betroffenen nicht regulieren können. So entsteht ein Teufelskreis. 

Manche Bulimie-Erkrankte berichten, dass sie lieber magersüchtig wären, weil sie die Magersüchtigen für stärker und disziplinierter halten. Kennen Sie das aus Ihrem Arbeitsalltag? 

Viele bulimische Patienten eifern den Magersüchtigen tatsächlich nach und fragen sich, wie diese es schaffen, so dünn zu sein. Sie schämen sich für ihre Erkrankung und werfen sich gleichzeitig vor, zu schwach zu sein. Dadurch werden sie aggressiv und steuern immer heftiger und drastischer gegen, um eine Zunahme überhaupt noch zu verhindern. Oftmals kommt noch eine Alkohol- oder Drogensucht dazu, was es besonders gefährlich macht. Und über allem schwebt die Selbstanklage: "Wenn ich einen stärkeren Willen hätte, könnte ich das besser bewältigen." 

Warum ist die Krankheit so gefährlich? 

Da ist einmal das Erbrechen selbst, das zu Salzverlusten etwa von Kalium führt. Kaliummangel kann gefährliche Herzrhythmusstörungen auslösen. Auch die Speicheldrüsen sind an das ständige Erbrechen nicht gewöhnt, sodass sie anschwellen und das Gesicht entstellen können. Der Zahnschmelz wird durch die Magensäure beim Erbrechen strapaziert, sodass es zu Zahnschäden kommt. Um den Würgereiz auszulösen, setzen manche Hilfsmittel ein und brechen sich damit Zähne ab. Da am Hunger- und Sättigungsprozess alle Organe beteiligt sind, kann es überall im Körper zu Entzündungen kommen oder im schlimmsten Fall zu Krebserkrankungen. 

Was passiert neben den körperlichen Auswirkungen auf der psychischen Ebene? 

Bulimiekranke leiden enorm unter ihren Gefühlsschwankungen, bei denen mal die innere Leere dominiert, mal ein hartherziges Mit-sich-ins-Gericht-Gehen. Das macht es ihnen mitunter unmöglich, am sozialen Leben teilzunehmen und sie entwickeln Suizidgedanken. 

Bei vielen Bulimikern dauert es Jahre, bis sie eine Therapie beginnen. Warum? 

Essstörungen beginnen schleichend: Man denkt lange, dass man es noch im Griff hat, verheimlicht es vor anderen und vor sich selbst. Man denkt, dass es nur eine Macke ist oder ein Spleen, den man - wenn man nur willensstark genug wäre - einfach wieder abstellt. In der Regel haben Patienten, die bei uns stationär behandelt werden, eine Leidenszeit von mehreren Jahren bis zu Jahrzehnten hinter sich. Oft haben die Betroffenen schon mehrere Kliniken ausprobiert und sind frustriert oder schämen sich, dass sie immer noch krank sind. 

Warum muss es ein stationärer Aufenthalt sein? 

Für die Betroffenen ist es wichtig, in einer Klinik zu üben, wie sie wieder eine Struktur finden, wie sie regelmäßig essen können und das Essen auch bei sich behalten. Viele landen zwar in einer Klinik, oft aber in der falschen Abteilung: Mal sind sie in einer Suchtklinik, mal in einer Psychiatrie. In der Therapie müssen vor allem aber die Grundmuster behandelt werden, damit die Kontrollprozesse wieder funktionieren. Es geht darum, zu Essattacken Alternativstrategien zu finden, die es erlauben, mit den eigenen Gefühlen umzugehen. 

Wird die Bulimie als Krankheit unterschätzt? 

Definitiv - sowohl in der Gesellschaft als auch von Ärzt*innen Die Betroffenen bekommen manchmal Rückmeldungen wie: "Sie haben Normalgewicht, dann kann es ja nicht so schlimm sein." Manche Kliniken nehmen Patienten erst ab einem BMI unter 16 auf, weil sie glauben, dass alles darüber auch ambulant behandelt werden kann. Und in der Gesellschaft herrscht oft der Glaube, man müsse sich nur mal zusammenreißen.